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Flüchtlingskinder: Besuch einer «Willkommensklasse» führt zu deutlich schlechteren Leistungen als die sofortige Integration
Elf der 16 Bundesländer planten Ende März – sechs Wochen nach Beginn des Ukraine-Kriegs – sogenannte Willkommensklassen für geflüchtete Schülerinnen und Schüler, gemäss einer Umfrage des Mediendienstes Integration. Danach teilten nur Mecklenburg-Vorpommern, Niedersachsen, Rheinland-Pfalz, das Saarland und Thüringen neu zugewanderte Schülerinnen und Schüler vom ersten Tag an einer Regelklasse zu, begleitet von zusätzlichen Deutschkursen. In Willkommensklassen dagegen werden Kinder und Jugendliche getrennt von anderen Schülerinnen und Schüler unterrichtet. Neu ist das Konzept nicht: Bereits in der Flüchtlingswelle 2015/16 richteten viele Bundesländer solche Klassen für geflüchtete Kinder und Jugendliche ein. Aus der Bildungsforschung wurde daran Kritik laut.
So ergab eine Studie des Berliner Instituts für empirische Integrations- und Migrationsforschung bereits 2017, dass das Modell in der Praxis eine Menge Probleme birgt. Fazit der Forscher: «Die Beschulung neu zugewanderter Kinder und Jugendlicher wird bisher kurzfristig und kurzsichtig organisiert.» Die Lehrkräfte werden mit den Schwierigkeiten weitgehend allein gelassen – sie müssen sich durchwursteln. Weder gebe es einheitliche Lehrpläne, noch seien die Lehrkräfte, häufig Seiteneinsteiger, ausreichend für den Unterricht von Deutsch als Zweitsprache qualifiziert.
Zu den inhaltlichen Problemen der Sondergruppen gesellten sich gewichtige organisatorische. Zum Beispiel stellten die Forscher fest: «In den Willkommensklassen herrscht eine sehr hohe Fluktuation. Zum einen kommen das ganze Schuljahr hindurch Kinder in die Klasse, die gerade neu in Deutschland angekommen sind. Zum anderen verlassen die Kinder die Klassen, die aus den Erstaufnahmeeinrichtungen ausziehen und damit meist auch die Schule wechseln müssen, und die Kinder, die in Regelklassen aufgenommen werden. Diese Situation beschreiben die Lehrkräfte als große Herausforderung, weil es die Etablierung von Strukturen und gruppendynamischen Prozessen erschwert.»
Auch die Trennung wurde als Problem wahrgenommen – von den Pädagoginnen und Pädagogen selbst: «Generell ist bei vielen Lehrkräften die Wahrnehmung verbreitet, dass die Willkommensklassen aufgrund ihrer Separiertheit im Schulalltag häufig vergessen werden, beispielsweise bei den Bundesjugendspielen, Einschulungsfeiern, dem Schulfest, der Vergabe von Turnhallenzeiten oder der Beteiligung an Theaterstücken.» Die Wissenschaftliche Kommission der Kultusministerkonferenz (KMK) schrieb dann auch im März zur Integration von ukrainischen Flüchtlingskindern in Regelklassen: «Dieses Modell sollte insbesondere in der Grundschule und den frühen Jahren der Sekundarstufe die Regel sein.»
Wie sich jetzt zeigt, gibt es neben der sozialen Integration ein weiteres gewichtiges Argument: Der Besuch einer separaten Vorbereitungsklasse führt bei neu zugewanderten Kindern zu deutlich schlechteren schulischen Leistungen als die unmittelbare Eingliederung in den Regelunterricht. Zu diesem Ergebnis kommt eine aktuelle Untersuchung des RWI. Geflüchtete Kinder, die während ihrer Grundschulzeit zunächst eine sogenannte Willkommensklassen besucht haben, erzielen bei standardisierten Tests in der fünften Klasse deutlich schlechtere Ergebnisse als geflüchtete Kinder, die direkt in eine reguläre Grundschulklasse integriert und teilweise mit zusätzlichem Deutschunterricht versorgt wurden.
Der negative Effekt ist besonders stark in den Fächern Mathematik und Deutsch. Schülerinnen und Schüler, die eine Vorbereitungsklasse besucht haben, schaffen zudem mit geringerer Wahrscheinlichkeit den Sprung auf ein Gymnasium.
Für die Analyse nutzen die Autorinnen exklusive Individualdaten der Hamburger Behörde für Schule und Berufsbildung aus den Jahren 2013 bis 2019, welche durch die Vertrauensstelle der Hamburger Schulbehörde mit den Daten der standardisierten Tests Vera und KERMIT verknüpft wurden. In Hamburg besuchten in dieser Zeit bis zu 1'200 Grundschulkinder separate Vorbereitungsklassen. Diese sind in der Regel auf ein Jahr angelegt, der Schwerpunkt liegt mit 18 vorgesehenen Schulstunden pro Woche auf dem Deutschunterricht. Angesichts der Vielzahl an Geflüchteten konnten jedoch insbesondere in den Schuljahren 2015/2016 bis 2017/18 nicht alle geflüchteten Kinder in Vorbereitungsklassen unterrichtet werden.
Da geflüchtete Familien in Hamburg zentral den Unterkünften und schulpflichtige Kinder den Schulen zugewiesen werden, haben sie kaum Einfluss darauf, ob ihre Schule eine Vorbereitungsklasse anbietet oder nicht. Durch diese zufällige Verteilung können die Effekte der Vorbereitungsklassen auf die schulischen Erfolge in der Studie kausal analysiert werden.
«Unsere Studienergebnisse deuten darauf hin, dass die direkte Integration von neu zugewanderten Grundschulkindern in Regelklassen ihre schulischen Leistungen stärker fördert als der Besuch von Vorbereitungsklassen mit intensivem Deutschunterricht», sagt RWI-Wissenschaftlerin Lisa Sofie Höckel. Ihre Forderung ist klar: «Um den Kindern möglichst grosse Bildungschancen zu eröffnen, sollten sie möglichst schnell in Regelklassen integriert und vor allem mit zusätzlichem Deutschunterricht besonders gefördert werden.»